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Persönliches

Kopp hoch, auch wenn der Hals dreckig is'

Lieber Ruhrpott,
es ist schon eine Weile her, dass wir uns kennengelernt haben. Seitdem ist bei mir viel geschehen. Und ich hatte nie die rechte Zeit, Dir zu schreiben, also hole ich es heute nach. Mein letzter Umzugskarton ist ausgeladen, die alte Wohnung an den Vermieter übergeben. Ich fürchte, das war's erstmal mit uns beiden. Immerhin hattest Du die letzten zehn Jahre eine ganze Menge von mir.

Der erste Kontakt mit Dir hat mich eher erschreckt. Als Kind vom Land war ich so viel Grau, so viele dicht aneinander stehende Häuser und vor allem die Menschenmengen überhaupt nicht gewöhnt. Ich brauchte eine Weile, um mit Dir warm zu werden – genauer gesagt, ein paar Jahre.
Doch jetzt nehme ich eine ganze Menge mit, was ich wahrscheinlich nur bei Dir lernen und auf diese Weise erfahren konnte.

Zum Beispiel, dass durchaus jemand 'Boah, wat siehste heute Scheisse aus!“ zu mir sagen und es überhaupt nicht böse meinen kann. In meiner schwäbischen Heimat wäre das eine verschärfte Kriegserklärung, der ein ernsthafter Abbruch der diplomatischen Beziehungen folgen würde. Aber im Pott folgt dann meist die Frage: „Wat issn bei Dir los?“ und zeigt, dass die erste Aussage eher besorgt denn beleidigend gemeint war.
Im Pott sind die meisten Menschen sehr ehrlich, sehr direkt und gerade dadurch auch sehr offen anderen gegenüber. Die sind schon goldrichtig, Deine Einwohner. Hier haben mir völlig Fremde einfach mal so bereitwillig geholfen oder auch mal angepackt, wenn ich mit meinen dicken Wäschetüten vom SB-Salon per Bus nach Hause fahren wollte. Hier habe ich Zivilcourage und Miteinander gesehen, was in den gutbürgerlichen Städchen im Süden eher unüblich ist. Dort bleiben die Leute gern für sich.

Auch die einheimische Ernährung war für mich zunächst ungewohnt. Wenn man mit Spätzle, einem guten Braten und Fleischküchle aufwächst, wirkt die Bezeichnung Mantateller eher irritierend denn lecker. Auch Pommes Schranke stellte mich vor das Problem, aus dem Namen nicht wirklich ableiten zu können, in welcher Form ich meine Pommes frites bekommen würde. Aber nach diesen ersten Anlaufschwierigkeiten wurde ich dank der heimischen Currywurst sehr schnell Pott-assimiliert.
So sehr, dass mich mein damaliger Freund mit Vergnügen in eine von Truckern konsultierte Imbissbude geschleppt hat, um mir dort extra extra scharfe Currywurst zu bestellen. Wenn ein schüchternes Landmädel die kernige Verkäuferin angrinst und die höllenscharfe Wurst anstandslos vertilgt, gucken eben auch beinharte Truckfahrer überrascht. Vor allem, wenn vor ihnen nur die Normalversion steht. 
Wie sollten sie auch meine ungarischen Wurzeln ahnen? Scharf ist schließlich erst dann, wenn Opa weint. Und mein Opa hat beim Gulasch nach Familienrezept nie geweint, auch wenn alle anderen am Esstisch schon kurz vor der inneren Schärfeexplosion standen.

Das Sprachproblem war für mich zu Anfang recht unangenehm. Für's Studium hatte ich mir schon meine ursprüngliche, hohenlohische Mundart abgewöhnt, die man am Studienort ohnehin nicht verstanden hätte. Nun im Pott allerdings mit einem Idiom aufeinander zu prallen, das wat und dat** als Hauptbegriffe und so schöne Konstrukte wie weisse, siesse und meinsse benutzt, schmerzte dann doch ein wenig. Inzwischen bin ich erstaunt, wenn ich derlei nicht mehr höre – weisse, die tun woanners auch nua komisch sprechn!
Gerade, wenn die Nachbarn zu den Ureinwohnern gehören und regelmäßig ihren unmotivierten Nachwuchs von der Straße nach drinnen rufen, lernt man viel über den Ruhrpott-Sprachgebrauch. Auch darüber, wie man seine eigenen Kinder nie nennen will und wird. SCHUSTIN, kommse sofot rein, sons' gibbet aufn Aasch! Ruhrpott-Mütter setzen sich schon verbal sehr gut durch.

Überhaupt hast Du viele Gesichter, lieber Pott. Die alte Zechen- und Kohlekultur findet man an jeder Ecke wieder, in manchen Stadtteilen kann man das Steigerhaus und die dazugehörigen Arbeiterhäuschen noch genau erkennen. Auch die wie Pilze oder Unkraut im Stadtbild überall sprießenden Kioske und Trinkhallen sind schon recht speziell.
Wenn man vom Land kommt, gibt es so etwas nicht, auch nicht in der nächstgrößeren Stadt. Ich habe schnell gelernt, diese praktische Einrichtung zu genießen, vor allem Sonntag abends mit Getränkenotstand. Beim Kiosk nebenan ein paar Flaschen Coke abgreifen zu können hat definitiv Vorteile.

Bunt und abwechslungsreich sind die vielen kleinen Lädchen, die alle etwas Besonderes zu bieten haben. Frisches Gemüse vom Türken, asiatische Gewürze, afrikanischer Schmuck, russische Folklore und noch vieles mehr. Wer sich ein bisschen Zeit nimmt, kann sich an einem Tag die halbe Welt ins Haus holen. Noch nie habe ich eine so reiche Auswahl an Speisen gehabt. Heute Sushi, oder doch ein dickes Döner? Lieber indisches Curry, oder beim Chinarestaurant ein mongolisches Buffet? Oder ganz bodenständig beim Griechen oder Italiener essen gehen? Es ist die reinste Qual der Wahl!
Manchmal entdeckt man sogar echte Perlen: Ich habe einige Jahre nicht in Gelsenkirchen gewohnt, doch als ich zurückkehrte und mit Freude feststellte, dass mein Lieblings-Asia-Imbiss noch existiert, erinnerte man sich dort auch an mich und servierte mir mein Standardgericht immer noch perfekt gewürzt wie früher.

Und so kulturlos, wie viele behaupten, bist Du ganz sicher nicht, lieber Pott. Hier gibt’s viele Kreative, die versuchen, eine neue Kulturlandschaft zu bilden. Selbst herumlaufende Zombies, den Christopher Street Day und eine seit fünfhundert Jahren gefeierte Kirmes kann man im Pott begutachten.
Hier habe ich 2006 Deutschlands Sommermärchen erlebt, auch wenn ich sonst mit Fußball nicht viel am Hut habe. Doch die vielen Menschen aus den unterschiedlichsten Ländern, mit denen man in den öffentlichen Verkehrsmitteln zwangsläufig aufeinander traf und die viele Fragen zu unserem Land hatten, haben ihre Lebensfreude so freigiebig weiter gegeben, dass auch ich mitgerissen wurde.

Überhaupt, die Sache mit dem Fußball ist auch so ein Ding. Gerade, wenn man in einer der beiden Fußball-Hochburgen wohnt. Manchmal habe ich vermutet, die einzig wichtige Gewissensfrage im Pott laute 'Schalke oder Borussia'. Wenn Schalke spielte, waren in meinem Viertel die Straßen leergefegt. Eine prima Zeit, um einkaufen zu gehen, denn bei Schalke-Spielen bekam man beim Supermarkt meist einen Parkplatz direkt vor dem Eingang.
Wenn ein Tor für Schalke fiel, hörte man das durch die Wände. Die Fouls und Torchancen der Gegner natürlich auch. Und der Grieche vom Imbiss zwei Straßen weiter spendierte bei Schalke-Siegen einen Ouzo zum Gyros. Fußball gehört hier einfach dazu, selbst wenn man kein Fan ist. Irgendwann habe ich mich dabei ertappt, jemanden danach zu fragen, wie Schalke gespielt hat...

Lieber Pott, es war eine tolle Zeit mit Dir. Hier durfte ich wachsen, viele wertvolle und spannende Menschen kennenlernen, Erfahrungen machen und vor allem meinen Horizont enorm erweitern. In Dir steckt viel mehr, als man beim ersten Blick vermuten möchte. In schlechten Zeiten gab es bei Dir für mich immer eine ausgestreckte Hand und ein aufmerksames Ohr, in guten Zeiten konnten sich andere ehrlich mit mir freuen.
Wenn ich die Wahl hätte, ob ich alles noch einmal so machen würde, wie es passiert ist, würde ich vielleicht auf einige Männer-Erfahrungen verzichten. Aber nicht auf Dich, meinen stillen Kumpel mit dem kohlschwarzen Herzen. Ich verlasse Dich mit einem lachenden und einem weinenden Auge und bin mir sicher, wir werden uns wiedersehen.
Kopp hoch, auch wenn der Hals dreckig is!

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Für Leute, die des Ruhrpott-Dialekts nicht mächtig sind:
* Mantateller: Pommes frites rot-weiß mit Currywurst, Pommes Schranke = Pommes frites rot-weiss
** wat = was, dat = das, weisse = weißt Du, meinsse = meinst Du, siesse = siehst Du

Über Gloria H. Manderfeld

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