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LARP

Schuld war nur die Mama

Dieser Text ist im Rahmen meiner "Roleplay-Girl-Kolumne" auf r2inside.de anlässlich einer Artikelreihe zum Thema Muttertag 2013 erschienen.

Bekanntermaßen gibt es für alle Entwicklungen im Leben eines Menschen irgendeinen Grund – man kennt ihn nur oft nicht oder kann ihn nur schwer ergründen. Wie ich zum Rollenspiel, Fantasy und Science Fiction liebenden Nerdgirl wurde, weiß ich allerdings sehr genau: Schuld daran ist meine Mutter.
Wobei ich 'Schuld' in diesem Fall absolut nicht negativ sehe. Ohne Phantasiewelten, in die ich hin und wieder eintauchen kann, wäre mein Leben auf Dauer wahrscheinlich sehr viel langweiliger und weniger lebenswert. Ich hätte viele interessante und auch absurde Erfahrungen nie gemacht, die ich heute nicht mehr missen möchte.
 
Meine Mutter schleppte mich, sobald ich im Alter von fünf Jahren richtig lesen gelernt hatte, in die örtliche Stadtbücherei, um meinen Horizont zu erweitern. Wahrscheinlich hatte sie gehofft, dass ich bei „Hanni und Nanni“, „TKKG“, „Die drei Fragezeichen“, „Dolly“ oder anderen Kinderbuch-Klassikern bleiben würde. Bücher, die ich natürlich auch mit großer Freude verschlungen habe.
Allerdings hatte die Stadtbücherei - was für eine Einrichtung dieser Art im schönen schwäbischen „Ländle“ schon sehr progressiv war - auch eine Comicabteilung. Dort standen neben „Asterix“ und „Tim und Struppi“ auch andere Vertreter der damals bekannten francobelgischen Schule, unter anderem die Serie „Yoko Tsuno“ von Roger Leloup. Kurz gesagt geht es da um ein Trio junger Leute, welches von einer japanischen Elektronikspezialistin angeführt wird und das auf der Erde und im Weltall spannende Abenteuer erlebt.

Im Weltall treffen die drei Protagonisten auch auf die Vineaner, ein außerirdisches und blauhäutiges Volk mit weit fortgeschrittener Technologie, aber erschreckend rückständiger Gesellschaft. „Blaue Menschen!“, dachte ich damals und war fasziniert. Was in diesen Comics alles möglich war, erweiterte meinen Horizont beträchtlich - nur eben wohl nicht auf die geplante Weise. Anstelle „Der Wind in den Weiden“ wurde ich zur Comicjägerin und lauerte geradezu auf den nächsten möglichen Besuch der Bücherei. Immer ging ich mit der stillen Hoffnung dorthin, den neuesten Band „Yoko Tsuno“ abgreifen zu können. Pädagogisch wertvollere Vorschläge á la „Tim und Struppi“ nahm ich natürlich auch mit nach Hause, aber meine Liebe zum Ungewöhnlichen war erwacht.

Wenn man wie ich auf dem Dorf aufwächst, gibt es nicht viele Möglichkeiten, an neuen „Stoff“ zu gelangen. Kein Privatfernsehen, kein Internet, kein Kiosk mit Comics, kein Buchladen, nur Kühe, Geruch nach Kühen und sehr viele Wiesen und Äcker. Deswegen waren die Stadtbüchereibesuche mit meiner Mutter ein absolutes Highlight in meinem Alltag. Alles andere musste man sich dann eben selbst vorstellen oder auf „Raumschiff Enterprise - das nächste Jahrhundert“ zurückgreifen, das zu dieser Zeit noch Freitag nachmittags im ZDF lief.

Meine Mutter wurde mit einem Kind konfrontiert, das „Prinz Eisenherz“ zu seiner ersten großen Liebe erkoren hatte und am liebsten eine Weile als tapferer Ritter durch die Welt gezogen wäre. Nicht als Burgfräulein, denn die „Eisenherz“-Bücher zeigten, dass Ritter viel mehr Abenteuer erlebten als die Fräuleins. Die wurden immer nur von finsteren Gestalten geraubt. Oder ich baute mir aus Pappe die Waffen der Vineaner nach und verfolgte imaginäre Weltraumschurken in unserem Garten.
Andere Mütter hätten vielleicht geschimpft oder sich die Haare gerauft - aber meine Mutter blieb gelassen und ließ mir meine Freiheit. Dafür bin ich ihr auch heute noch dankbar, ließ es mir doch die Möglichkeit, aus dem eher beschaulichen dörflichen Umfeld zumindest geistig auszubrechen und mir die große weite Welt (und den dazugehörigen Weltraum) in meinen Kopf zu holen. Sie lobte meine selbstgezeichneten Comics, auch wenn diese wirklich grauenvoll aussahen, und bestärkte mich immer darin, zeichnen zu lernen.

Als ich vor einigen Jahren erzählte, dass ich mir meine ersten LARP-Kostüme mit der Hand selbst genäht hatte, wollte sie mir das zuerst nicht glauben. Sie hatte schließlich erlebt, mit welcher Verachtung ich in der fünften Klasse den Handarbeitsunterricht ertragen habe. Sticken, mit der Hand nähen, stricken - alles Dinge, die bei allen anderen Kindern viel besser aussahen. Andere Mütter bekamen hübsch aussehende Platzdeckchen mit Blumenmuster geschenkt. Meine Mitbringsel konnte man nur mit viel gutem Willen als Konglomerat aus Stoff und Faden erkennen.Und heute ist sie, wie ich hoffe, stolz darauf, dass ich mir das Nähen selbst beigebracht habe und die Ergebnisse durchaus passabel aussehen. Zum Geburtstag hat sie mir eine wirklich gute Nähmaschine geschenkt.
Auch mein Traum, irgendwann in Star-Wars-Kostümen zu heiraten und den „Imperial March“ beim Gang aus dem Standesamt zu spielen, hat sie nicht weiter überrascht. Sie wollte nur, dass ich ihr dann ein passendes Kleid nähe, damit sie auch zur Hochzeitsgesellschaft passt. Meine Mutter kann ich einfach mit nichts mehr schockieren - und zumindest war es mit mir als Kind wohl auch nie langweilig.

Unser Garten war Weltraumschurkenfrei, ich war stets bereit, sie mit meinem Holzstockschwert zu verteidigen und hatte immer irgendeine Geschichte auf Lager. Wer weiß, vielleicht würde sie mich noch einmal in die Stadtbücherei schleppen, wenn sie die Möglichkeit dazu hätte, alles erneut zu erleben. In jedem Fall schätze ich mich ausgesprochen glücklich, dass meine Mutter genau so ist, wie sie ist!

Über Gloria H. Manderfeld

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