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Rezension: Roter Mond


Patrick Gambles Welt gerät aus ihren Fugen, als er seinen Vater verlassen muss, der als Reservist wieder zum Militärdienst eingezogen wurde. So bleibt nur der Umzug zur in Scheidung vom Vater lebenden Mutter, mit der er seit vielen Jahren nur noch losen Kontakt hat und auf die er sich dementsprechend nicht besonders freut. Doch auf dem Überlandflug von San Francisco nach Portland wird auf das Flugzeug ein folgenschwerer Anschlag verübt, bei dem ein Lykaner blutige Ernte unter den Passagieren hält. Patrick überlebt als einziger Passagier und wird fortan mit einem großen Medieninteresse gequält, was ihm den Neuanfang bei seiner Mutter nicht wirklich leichter macht …

Claire ist Lykanerin und träumt von einem ganz normalen Leben, fernab von den lykanerrechtlichen Themen, die durch ihre Eltern permanent aufgebracht werden, mit einer normalen Ausbildung, einem Freund, der sie aufrichtig liebt, und am Besten möglichst wenig Blick auf ihre zweite Natur. Diese Träume platzen jedoch, als nach dem Lykaneranschlag auf Patricks Flugzeug die amerikanische Regierung hart gegen mutmaßliche Lykaneraktivisten durchgreift und ihre Eltern von Regierungsbeamten erschossen werden. Von nun an ist Claire auf der Flucht, in einer Welt, in der sich die allgemeine Aufmerksamkeit auf alle richtet, die mit dem Lobos-Virus infiziert sind.

Ideale Verhältnisse für Gouverneur Chase Williams, den sein findiger Berater Augustus Remington auf den Sessel des Präsidenten hieven will und der mit Anti-Lykaner-Parolen viel Zustimmung bei der Bevölkerung findet. Die folgenden Sanktionen gegen Lykaner verschärfen die Stimmung zwischen den »normalen« Bürgern und den Infizierten zunehmend, und Amerika taumelt einer Zukunft entgegen, in der nichts mehr so ist, wie es einmal war …

Auf dem Schutzumschlag dieses über sechshundert Seiten dicken Romans befindet sich ein Zitat von John Irving: »Hätte George Orwell sich eine Zukunft mit Werwölfen ausgemalt, dann wäre genau dieser Roman dabei herausgekommen.« - ein Versprechen, das Benjamin Percy zu einem gewissen Teil einlösen kann, zu einem anderen jedoch Erwartungen weckt, die zwangsläufig enttäuscht werden müssen.
Grundsätzlich ist die Alternativwelt sehr gut inszeniert: Durch das Lobos-Virus, welches durch Biss oder Konsum übertragen werden kann, werden aus normalen Menschen Lykaner, deren zweites Ich sich zu einem blut- und fleischgierigen Wolfswesen entwickeln kann. Ungebändigt eine tödliche Gefahr für andere Menschen, sodass die Regierung schon vor vielen Jahren verfügt hat, dass  Lykaner nur durch die Einnahme des die lykanischen Regungen dämpfenden Volpexx-Medikaments ein aktiver Teil der Gesellschaft sein dürfen. Wer sich anpasst, ist mit dabei, allerdings oft auf Kosten der eigenen Lebensqualität, da Volpexx enorme Nebenwirkungen auf Physis und Psyche hat.

Amerika befindet sich in der Gegenwart der Erzählung im Konflikt mit der paramilitärischen, zwischen Finnland, Russland und dem weissen Meer liegenden »Republik«, welche von freiheitsliebenden Lykanern beherrscht wird und in welcher sich wertvolle Bodenschätze befinden. Die dort stationierten Soldaten sollen sicherstellen, dass die Rohstofförderung in von US-Unternehmen betriebenen Minen reibungslos ablaufen, was natürlich nicht funktioniert – und immer wieder Menschen- und Lykanerleben fordert. 
Zu Beginn der Erzählung ist das Miteinander zwischen Menschen und ihren wölfischen Mitbürgern noch relativ gemäßigt möglich. Claire kann sich beispielsweise unter mehreren Colleges entscheiden, die eine gemischte Studentenschaft haben. Der Anschlag auf Patricks Flieger indes setzt eine Gewaltspirale in Gang, die erschreckend schnell die brüchige allgemeine Ordnung zerstört, von der ursprünglichen geordneten Gesellschaft nur noch Trümmer hinterlässt und offenbart, dass man kein Lobos haben muss, um innerlich zum Tier zu werden.

Wer sich ein wenig mit geschichtlichen Verläufen beschäftigt, kann hier recht viele Anklänge zur Weimarer Republik und dem beginnenden Dritten Reich finden. Man muss vom Umgang mit Andersartigen her nur die Lykaner durch die Juden ersetzen, deren bürgerliche Rechte nach und nach beschnitten werden, bis sie schließlich alleine durch die Tatsache, anders zu sein, auf die Abschussliste der herrschenden Personen geraten. Anders als in der Realität aber regt sich bei den körperlich starken Lykanern der Widerstand, dessen Anschläge die Geschwindigkeit der Entwicklung ordentlich anziehen und schließlich zu einem völligen Zusammenbruch der bekannten Ordnung führen. 
Selbst wenn man sich sagt, dass Lykaner ein reines Phantasieprodukt sind, so schildert Percy das menschliche Verhalten im Angesicht der Krise so erschreckend und realitätsnah, dass man den Fantasyanteil des Weltkonstruktes recht schnell vergisst und einfach mit innerem Horror verfolgt, wie grausam Menschen miteinander umgehen können.

Dem Autor gelingt es dabei, auch ohne direkte Schilderung von entsetzlichen Ereignissen die entsprechenden Bilder hervorzurufen, was auch ein Grund war, warum ich vergleichsweise lange Zeit gebraucht habe, bis ich »Roter Mond« durchgelesen hatte. Bei manchen Szenen wirkten die beschworenen Bilder durch ihre Intensität und Traurigkeit lange für mich nach, sodass ich immer wieder Pausen einlegen musste, um mich der Erzählung weiter stellen zu wollen. Gerade das in scheinbar locker hingeworfenen Nebensätzen stecken bisweilen Einblicke, die nur schwer zu verdauen sind. Dieses Buch ist definitiv nichts, das man einfach nebenbei oder leicht

Während gerade beim Verfolgen des Patrick-Gamble-Handlungsstranges für mich das Gefühl irgendwann unerträglich wurde, dessen viel zu lange Zeit währende, stumpfe Handlungslosigkeit irgendwie anschieben zu wollen, entwickelt sich der Handlungsstrang um die ehemalige Widerstandskämpferin Miriam deutlich erschütternder und mitreißender. Die Handlung um den Lobos-Gegenmittelforscher Neal und seinen Grund, so verbissen nach einem Heilmittel zu suchen, hat mich stets mit einem Gefühl hoffnungsloser Traurigkeit erfüllt, die mir in diesen Abschnitten der Erzählung das Weiterlesen schwer gemacht hat. 
Claires Handlungsstrang scheint mir noch der nachvollziehbarste, in sie konnte ich mich beim Lesen am besten mit hineinversetzen, während die Erzählung rund um Chase den unangenehmen Eindruck hinterließ, sich weniger auf die Darstellung des Charakters selbst, sondern um das bequemere Füttern des Lesers mit Hintergrundinformationen aus der Richtung des Regierungsgeschehens zu konzentrieren.

Durch die sehr unterschiedlichen Blickwinkel erlaubt der Autor ein vielschichtiges Bild auf die Situation. Doch hier liegt die eigentliche Crux des Romans - wegen der ebenso sehr unterschiedlichen Persönlichkeiten der handelnden Personen und deren Herangehensweise an die Ereignisse lesen sich manche Kapitel ausgesprochen mühsam, während man von anderen nicht genug kommen kann; ein Spannungsbogen wird hier nur indirekt aufgebaut. 
Im Vergleich mit der dichten Atmosphäre, die es George Orwell bei seiner Überwachungsstaat-Dystopie »1984« zu schaffen gelingt, muss Benjamin Percys Erzählung zurückstecken. So bleibt »Roter Mond« sicherlich ein Buch mit einem interessanten, aufwühlenden Weltenkonstrukt, kann aber die zeitlose Klasse eines Orwell nicht wirklich erreichen. Nicht zuletzt, weil das sehr hohe Maß an Blood&Gore im vorliegenden Roman sehr an die Filmindustrie der Gegenwart erinnert und Orwells erzählerische Methoden über die Auswirkungen und das Verhalten der Menschen innerhalb eines so restriktiven Systems sehr viel feinteiliger sind.

Fazit: Eine interessante Dystopie, die erschreckend glaubhaft geschildert wird, leider mit deutlichen Schwächen bei Spannung und Handlung. Sieben von zehn möglichen Punkten.

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Buchdetails:
Titel: Roter Mond
Originaltitel: Red Moon
Autor: Benjamin Percy
Übersetzer: Michael Pfingstl
Buch/Verlagsdaten: Penhaligon, März 2014, 640 Seiten gebunden, ISBN-13: 978-3764531232, 19,99€

Das Rezensionsexemplar wurde vom RandomHouse-Bloggerportal zur Verfügung gestellt - vielen Dank!

Über Gloria H. Manderfeld

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